Berufsspezial

„Unsere Absolvent*innen sind so gut wie nie arbeitslos“

Schon seit ihrer Promotion begeistert sich Prof. Dr. Angelika May für Finanz- und Versicherungsmathematik. Seit 2006 forscht und lehrt sie am Institut für Mathematik an der Universität Oldenburg, ihr Schwerpunkt ist die „Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften“.
Weshalb sie diese Fachgebiete so reizen, was der Zufall damit zu tun hat und warum sie junge Menschen dazu anregen möchte, Mathematik zu studieren, verrät May im Interview mit Lehrerspezial.

Lehrerspezial: Frau Prof. May, Sie haben sich beruflich der Mathematik verschrieben. Was fasziniert Sie daran?
Angelika May: Ich liebe es, spannende und herausfordernde Aufgaben zu lösen, die immer wieder neu sind. Ich bin kein Routinemensch und ich bin kein 80-Prozent-Mensch. Bei mir muss immer alles perfekt sein. Es gibt kaum ein wohltuenderes Gefühl, als in der Mathematik ein Ergebnis bewiesen zu haben und zu wissen: Das ist es jetzt! Gleichzeitig gehen in der Mathematik Eleganz und Präzision Hand in Hand. Das begeistert mich.
Wann haben Sie Ihre Freude an der Mathematik entdeckt?
In der Schule hat mich der Unterricht eher gelangweilt. Aber als ich 13 war, habe ich ein Ingenieurbuch aus dem Studium meines Vaters in die Hände bekommen, der Elektrotechniker ist. Dieses Buch habe ich von vorne bis hinten durchgerechnet. Und als ich hinten angekommen war, habe ich vorne wieder angefangen. Von da an wusste ich: Ich will Mathematik studieren. Das habe ich dann auch gemacht.
Wie und wann sind Sie mit der Finanz- und Versicherungsmathematik in Berührung gekommen?
Durch Zufall – und passend zur Lebensversicherungsmathematik war der Anlass leider ein eher trauriger. Ich war durch mein Studium relativ „rein“ ausgebildet, der Anwendungsbezug spielte keine große Rolle – so hat man damals in den 1980ern studiert. Am Ende meiner Promotion verspürte ich dennoch den Drang, etwas mit Anwendungsbezug zu machen. Deshalb habe ich eine Lehrveranstaltung zum Thema Lebensversicherungsmathematik besucht, die ich sehr spannend fand. Nicht etwa, weil sie inhaltlich so herausfordernd war, sondern weil es eine reale Anwendung gab.

Dann passierte leider etwas Tragisches: Der Lehrbeauftragte starb. Die Frage kam auf, wer die knapp 40 Personen große Gruppe unterrichten sollte. Da habe ich mutig die Hand gehoben und gesagt: „Ich bin zwar noch nicht ganz promoviert und ich höre die Inhalte zum ersten Mal, aber ich traue mir das zu.“ Da ich zu dem Zeitpunkt meiner Promotion sehr gute Lehrevaluationen hatte, hat der Dekan zugestimmt, allerdings unter folgenden Bedingungen: Es gab keine Vergütung und immer, wenn er wolle, könne er vorbeikommen und schauen, wie ich unterrichte. Ich stimmte zu und übernahm den Lehrauftrag für zehn Jahre – bis zur Promotion unentgeltlich, danach als reguläre Lehrbeauftragte.
Wo stecken die mathematischen Herausforderungen der Finanz- und Versicherungsmathematik?
In der Finanzmathematik interessieren mich Fragen der Abhängigkeit, zum Beispiel Abhängigkeiten von Aktien oder anderen Anlagesorten untereinander. Bei Aktien haben wir es mit zufälligen Kursschwankungen zu tun. Zufälle lassen sich durch Wahrscheinlichkeiten beschreiben. Bereits in der Schule werden Wahrscheinlichkeitsverteilungen vermittelt, wie etwa die Normalverteilung, und man lernt, damit zu arbeiten. Wenn man aber die vorhandenen Daten genauer untersucht und herausfindet, dass die Normalverteilung gar nicht passt, ist man gezwungen, lauter interessante Fantasien zu entwickeln, die gehen könnten. Bedauerlicherweise sind diese Ideen meistens nicht so zu handhaben, wie man es gerne hätte. Und dann beginnt der eigentlich spannende Prozess. Es gibt für solche Problemstellungen ein spezielles Werkzeug, das es erlaubt, die einzelne statistische Verteilung einer Anlage oder Anlagenklasse und deren Abhängigkeit zu anderen Anlagen mathematisch zu trennen. Letztlich sind das spezielle Funktionen, allerdings ist der Zufall als besondere Zutat mit drin. Genau das finde ich ungeheuer spannend. In der Finanzmathematik bezeichnen wir das als „Abhängigkeit von Assetklassen“.

Nun zu der Versicherungsmathematik: Prinzipiell interessiert mich alles, was mit Zinsen zusammenhängt. Wenn ich zum Beispiel eine Prognose in Bezug eines zufällig verlaufenden Zinssatzes machen möchte, wie gehe ich dann vor? Früher hat man gesagt, dass Zinsen nicht negativ werden. Das ist heute passé, aber natürlich können Zinsen nicht beliebig negativ werden. Wenn ich eine so genannte Brownsche Bewegung habe, also vereinfacht gesagt, eine unregelmäßige, zittrige Zins-Bewegung, die irgendwie um die Nulllinie zappelt, dann ist die nicht gut. Sich für solche Gegebenheiten ein Modell auszudenken, es mathematisch sauber hinzuschreiben und anschließend anhand von Daten zu überprüfen, damit ich eine Prognose für die Zukunft mache kann – das fasziniert mich an der Versicherungsmathematik.

In beiden Fällen handelt es sich einfach um schicke Mathematik, aber gleichzeitig weiß man: Je genauer man arbeitet, desto präziser kann man ökonomische Vorgänge oder vielleicht auch Vorhersagen quantifizieren, so dass die Akteure in der Volkswirtschaft etwas davon haben.
Welche wirtschaftliche Rolle spielen die Finanz- und Versicherungsmathematik?
Eine größere als noch vor einigen Jahrzehnten! Seitdem die Europäische Union eine stärkere Bedeutung hat, stehen zum Beispiel mathematische Formeln in EU-Gesetzestexten. Das soll sicherstellen, dass Banken und Versicherungen keine allzu hohen Risiken eingehen. Banken müssen ihr Risikomanagementsystem an einem sogenannten Regime namens Basel II oder III ausrichten. Für Versicherungsunternehmen gilt das Aufsichtsregime Solvency II. Dadurch ist die Bedeutung der Mathematik in diesem Teil der Ökonomie gegenüber den 1980ern Jahren explosionsartig gewachsen und bietet Mathematiker*innen in den Betrieben spannende Aufgaben.
Welche denn?
Es gibt verschiedene Arten von Aufgaben für Mathematiker*innen. Einige beschäftigen sich zum Beispiel mit der Frage: „Was kostet der Versicherungsschutz?“ Diese Frage betrifft dann die sogenannte Tarifierung, also die Tariffestlegung. Dann gibt es Mathematiker*innen, die sich mit dem Risikomanagement auseinandersetzen, darüber haben wir gerade gesprochen.

Darüber hinaus gibt es viele Mathematiker*innen, die dafür Sorge tragen, dass alle Software-Lösungen funktionieren. Und schließlich gibt es Mathematiker*innen, die ganz klassisch in der Datenverarbeitung sitzen. Das betrifft dann das Feld „Big Data“: Es werden viele Daten erhoben. Irgendjemand muss diese Daten analysieren und aufbereiten. Da wir in Deutschland nicht viele Studiengänge für Statistik haben, machen das in der Regel auch Mathematiker*innen oder Informatiker*innen. Wichtig ist: Alle diese Leute sind in der Regel „Aktuare“ – das ist eine Zusatzberufsbezeichnung, die von der Berufsständigen Vereinigung DAV e. V. verliehen wird.
Worauf sollten Studieninteressierte achten, die später in der Finanz- und Versicherungsbranche als Mathematiker*in tätig sein möchten?
Aus Sicht des Arbeitgebers wäre es perfekt, wenn sie bereits im Studium einen Schwerpunkt auf Versicherungs- und Finanzwirtschaft setzen und die Vorlesungen zum Thema hören. Zudem sollten sie ein qualifizierendes Praktikum von mindestens drei Monaten absolvieren und im Idealfall ihre Abschlussarbeit über ein finanz- oder versicherungsmathematisches Thema schreiben.
Wie steht es um die Berufsaussichten der Absolvent*innen?
Unsere Absolvent*innen sind so gut wie nie arbeitslos. Der Markt ist im Moment sehr groß und es sind in den letzten Jahren viele neue Aufgabengebiete entstanden. Früher haben klassische Versicherungsunternehmen Tarife bestimmt und Geld für Schäden zurückgestellt. Der große Bereich des Risikos ist erst seit etwa 2002 ins Bewusstsein gerückt, auch durch die Vorgaben im EU-Recht. Das hat den Arbeitsmarkt für Mathematiker*innen in diesem Bereich einfach viel facettenreicher gemacht und auch den Bedarf deutlich vergrößert. Gleichzeitig ist und bleibt Mathematik ein Neigungsfach, so dass wir relativ wenige Studienanfänger*innen haben. Das heißt dem hohen Bedarf auf der einen Seite steht eine gewisse Knappheit auf der anderen Seite gegenüber.
Was sollten Interessierte über das mathematische Interesse hinaus mitbringen?
Wer später in der Finanz- oder Versicherungsmathematik arbeiten möchte, sollte kommunikationsfähig sein und gut im Team arbeiten können. Gerade mit Blick auf das Risiko-Management ist es enorm wichtig, jemandem auf verständliche Weise berichten zu können, der oder die nicht Mathematiker*in ist. Außerdem sind gute Englischkenntnisse enorm wichtig. Die Gesetze der EU sind auf Englisch abgefasst und die Fachtagungen finden auf Englisch statt. Gleichzeitig braucht es eine Offenheit für angrenzende ökonomische und aufsichtsrechtliche Fragestellungen.
Bildquelle: © Universität Oldenburg_Foto_DanielSchmidt

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